too much future



1971 kam ich in den Genuss meiner ersten Deutschstunde. Den Bleistift in der linken Hand setzte ich zu etwas wie einem Buchstaben an. Die Lehrerin fackelte nicht lange und drückte mir den Stift in die rechte Hand, verbunden mit der düsteren Prophezeiung; “Später mußt du die Maschinen auch mit rechts bedienen.”
So wurde ich zu einem Mischwesen aus Links- und Rechtshänder, und so wurde meine Schrift zu etwas Runenhaftem, daß die Lehrer nie müde wurden, regelmäßig mit Fünfen zu bedenken. Vielleicht war dies der erste Moment in meinem Leben, in dem ich eine schwache Ahnung davon bekam, was es bedeuten konnte, als Abweichler wahrgenommen zu werden. Aber vielmehr noch war es der erste Moment, in welchem ich eine Zukunft zugewiesen bekam, die meine Lehrerin in reflexhafter übereinstimmung mit ihrer Partei- und Staatsführung ganz selbstverständlich mit Maschinen und mit festen Arbeitszeiten ausstattete, deren eigentlicher Schrecken jedoch darin lag, daß sie von einem festgeschriebenen und vorweggenommenen Lebenslauf ausging.
Auch wenn ich mir mit stolzen sechs Jahren noch keinen vollständigen Begriff von diesem Bedrohungsszenario machen konnte, so sorgten doch etliche, immer wiederkehrende Episoden über den Rest meiner Kindheit und in immer dichterer Folge über den Zeitraum meiner sozialistischen Jugend, für die beunruhigende Gewißheit, daß der sogenannte vorgezeichnete Lebensweg keinesfalls nur Zukunftsmusik war. Die Zukunft hatte mit der Einschulung begonnen und bestand in einer ewigen Gegenwart, in der Frühvollendung als Rechtshänder und in einer unausweichlichen Endversorgung durch die vielzitierte soziale Sicherheit, die das zähe und lange Ende jeder Zukunft bedeutete. Die DDR-typische Persönlichkeitsevolution verzeichnete folgende Entwicklungsstufen; die Initiation zum Jungpionier, die Weihe zum Thälmannpionier, die Einberufung zur FDJ. Schließlich legten die Knaben der Schöpfung für eineinhalb Jahre (am besten aber für 3 oder mehr) das “Ehrenkleid” der NVA an, um endlich als “allseits gebildete, sozialistische Persönlichkeit” in die Mühlen des sozialistischen Wettbewerbs entlassen zu werden. Immer die Straße der Besten entlang, die, mit Ausnahme der zu gründenden Familie, keine Seitenstraßen kannte, sondern schnurgerade in Richtung Rente führte. Das Ende der Schufterei unter sozialistischen Produktionsbedingungen gipfelte mit 60 bzw. 65 Jahren schließlich darin, nach den bisherigen Ausflügen in zwei oder drei der sozialistischen Bruderstaaten, mittellos den nichtsozialistischen Wirtschaftsbereich bestaunen zu dürfen. Bei Parteizugehörigkeit waren diese traurigen Aussichten vorzugsweise nicht ganz so traurig, aber dennoch zum heulen.
Mehr als einen tabellarischen Lebenslauf hatte ich in der DDR nicht zu erwarten. Er entsprach einem Gesellschaftsentwurf, der sich selbst in die Tasche log, durch die Kollektivierung des Individuums, durch die Lenkung seiner Bedürfnisse und der Befriedigung dessen, was von ihnen übrig blieb, würde der Sozialismus auf ethischem wie wirtschaftlichem Niveau den Kapitalismus überwinden. Entstehen würde eine neue Gesellschaft und aus ihr wiederum ein neuer Mensch, oder eben umgekehrt. Dieser durchaus lästige Anspruch führte unter anderem dazu, daß im sozialistischen Bildungswesen noch die harmlosesten Fächer ideologisch ausgerichtet waren. Mit Ausnahme der naturwissenschaftlichen Fächer, denen ich jedoch instinktiv schon deshalb mißtraute, da sich Inhalte, wie in der sozialistischen Heilslehre auch, in lebensfernen Definitionen und unsinnlichen Formeln ausdrückten, Gleichungen immer aufgingen und jedes Experiment zwangsläufig gelang. Einer solchen pädagogischen Herausforderung entsprechend, waren meine Leistungen in der Schule äußerst bescheiden. Eine Leistungssteigerung in der Lehre blieb, wie von allen erwartet und von mir nicht weiter angestrebt, aus. Ich begriff die Ausbildung zum Industriebuchbinder, oder, wie es kryptischer hieß, zum “Facharbeiter für Einzelbogenverarbeitung”, lediglich als Vorhölle zu dem, was dann kurzweilige 50 Jahre lang folgen sollte. Das war, wie die Verurteilung zu zweimal lebenslanger Haft, eine recht abstrakte Vorstellung und ich vergegenständlichte mir die DDR als eine Art Staatskirche, deren Existenz die ewige Verdammnis voraussetzte. Letzterer begegnete ich, zunächst völlig unvorbereitet, in Form des Horrors der sozialistischen Arbeitsnorm, die erst dann erfüllt war, wenn sie übererfüllt wurde. Es war nicht einmal so, daß ich mich anfänglich weigerte, sie zu meistern. Ich bewältigte sie ganz einfach nicht und das wenige, was ich produzierte war zur Hälfte Ausschuß. Also beließ ich es beim Versuch ihrer Erfüllung, um unsere Volkswirtschaft nicht noch weiter zu schwächen und scherte mich nicht weiter um Stückzahlen. Das hatte nach etlichen öffentlichen Ermahnungen zur Folge, daß ich als Fahrstuhlführer in den Lastenaufzug strafversetzt wurde. Bisher hatte Hans, ein Liliputaner, dieses Amt inne. Nach einem unvermuteten Wachstumsschub, war er für den Zirkus zu groß geworden, in dem er jahrelang seine Späßchen trieb. Abgeschoben in die Produktion, stets übelgelaunt und zu Späßen nicht länger aufgelegt, führte er ein Leben, in dem es täglich auf und ab ging, ohne jedoch, daß sich noch etwas bewegte. Er wurde krank. Für mich dagegen kam Bewegung in die Sache. Ich lernte die Spezies der Transportarbeiter kennen, die sich im Falle meines Ausbildungsbetriebes aus unterbelichteten Originalen rekrutierte. Ihr Referenzsystem bestand aus Verwünschungen, mit welchen sie den “Scheißosten” kommentierten sowie aus ebenso derben wie schlichten Einlassungen, die sich ausnahmslos ums “Ficken” drehten. Einige der jungen Frauen, weiblichen Kentauren gleich längst Teil ihrer Maschinen, waren da diskreter, nur um anzudeuten, daß sie praxisorientierter als ihre Kollegen waren. Gelegentlich betraten sie den Fahrstuhl wie einen Beichtstuhl und berichteten hinter vorgehaltener Hand, daß sie sich mittels großer Pappschilder über den direkt am Betrieb gelegenen Grenzstreifen hinweg mit den Transportarbeitern und Kraftfahrern des unmittelbar gegenüberliegenden Springer-Verlages verabredeten. Ein paar Meter vom Grenzübergang Baumschulenweg entfernt waren sie dann allzeitbereit. Die Währung waren Kaffee, Schokolade und Strumpfhosen sowie die unvergleichliche Befriedigung, in Gestalt eines Westlers den Osten gefickt zu haben.
Ich wechselte von der papiernen und feinstofflichen Theroie meiner Schule in die weitaus grobstofflichere Praxis einer Arbeitswelt, die sich, im Kontrast zu ihren ideologischen wie planwirtschaftlichen Höhenflügen, als absolut desillusioniert erwies. Ein Platz in dieser Welt war mir sicher. Schon allein deshalb, da Arbeit Pflicht und Selbstbestimmung im Masterplan des Idealstaates DDR nicht vorgesehen war. Keine Zukunft zu haben war nicht meine Angst. Doch mich beschlich die schreckliche Gewißheit, zuviel Zukunft entgegenzusehen. ...einer Perspektive ohne jede Perspektive, die mir nicht die Verwirklichung meiner Bedürfnisse und Interessen in Aussicht stellte, stattdessen aber die unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion, die Einheit von Volk und Partei, von Partei und Staatsführung und eine Endzeit, die nicht enden wollte.

1978 sprang mich ein kurzer Artikel in einer der DDR-Postillen an. In der üblichen Kombination aus Paranoia und Propaganda wurde vermeldet, daß es in London fehlgeleitete Jugendliche gäbe, die sich mit Symbolen von der Müllhalde der Geschichte schmücken, bei Konzerten gegenseitig umbringen, die Leichen in die Kanalisation werfen und sich Punks nennen. Punk wäre eine gegen den Kapitalismus gerichtete, westliche Mode, eine dekadente Form des Protests, der zum Scheitern verurteilt sei, da er nicht auf den Grundlagen des Marxismus-Leninismus fuße.
Will man einen Teenager in Spannung versetzen, ist dies der beste Weg. Ich empfand sofort, daß da etwas gefährliches und ungeheuerliches im Gange war. Etwas, das wach machte, weil es auf eine verstörende Weise fremd war. Die Meldung wurde von einem der damals bekanntesten Fotos zweier Punks auf der Londoner Kings Road illustriert. Schönere Menschen, als diese phantastischen Gestalten, hatte ich zuvor nicht gesehen. Und so prallten Schönheit und Gefahr aufeinander, es war Liebe auf den ersten Blick.
Daß der soziale Hintergrund der englischen Punks auf mich kaum zutraf, war meine Sorge nicht. Ich hatte Arbeit und mit 16 meine Planstelle weg. In der DDR brauchte man keine Lebensversicherung, das Glück war Mitglied der Partei und die Zukunft ein Pudel, der auf Befehl Männchen machte. Dennoch spürte ich, daß das No Future der West-Punks mit meinen Erfahrungen auf eine verdrehte Weise korrespondierte. Ich fühlte mich von einer verordneten Zukunft, die zuviel des Guten war, in den Schraubstock gespannt. Täglich wurden an meinen Ecken die Kanten gefeilt, bis ich drohte, zu einem Haufen Späne zu werden, die man zusammenkehren und zu etwas Neuem einschmelzen konnte. Ich beschloß, der Welt im Ganzen erhalten zu bleiben. Das geschah nicht gleich und es geschah nicht bewußt. Doch 1979 war es soweit, ohne daß mir die Folgen dessen klar waren, was ich eigentlich tat.
Ob in London, dem Epizentrum des Punk, oder in Ost-Berlin, der Rausch der ersten Wochen und Monate, in denen man sich ein erstes Mal mit Unfrisur, zerrissenen Klamotten und kettenbehängt auf die Straße wagte, war über Systemgrenzen hinweg sicher für alle Punks ähnlich erschütternd. Aufgedreht prallte man wie umgedreht auf die gleiche, doch völlig veränderte Welt. Man übernahm die Initiative, kappte die Taue, hielt die Fäden aber in der Hand. Wenigstens glaubte man das. Denn Punk zu sein bedeutete, das Glück von der Kette zu lassen. Soviel Glück gewann jedoch schnell an Eigendynamik und verlor, eben noch jungfräulich, recht flott seine Unschuld. An dieser Stelle nahm die Geschichte von Punk in Ost und West verschiedene Entwicklungen und man muß doch auseinanderhalten, was letztlich zusammengehört.
Indem die englischen Punks mit dem Schlachtruf “No Future” ihre Perspektivlosigkeit und ihr soziales Elend zu einer schrillen Marke stilisierten, die bis heute in den Codes der Musik-, Mode-, Video- und Werbebranche unter dem Label Punkrock fortwirkt, erreichte ihr Nihilismus eine gesellschaftliche Affirmation und Akzeptanz, die bis zu öffentlicher Anerkennung reichte. Johnny Rottens Abgesang “There′s no future in Englands dreaming.” erwies sich in seiner Umkehrung als eine echte Erfolgsstory und letztlich als Investition in die Zukunft. Der Protest der DDR-Punks hingegen blieb, durch die massive Verfolgung seines öffentlichen Ausdrucks, immer halb erstickt, während der Aufschrei der englischen Punks sein Echo in politischer, stilistischer und nicht zuletzt in kommerzieller Hinsicht fand. In dieser Wirkung, und in dem garantierten Maß an freier Entfaltung, die sie voraussetzte, lag der Traum der Ost-Punks, der sich in der DDR nur unter erschwerten Bedingungen ausleben ließ. Insofern war England das gelobte Land und das Interesse richtete sich zunächst auf die Bands und die Szene in London oder Manchester. Bezeichnenderweise orientierte sich zumindest die erste Generation von DDR-Punks, die 1979 auftauchte und aus vielen Gründen 1984 fast vollständig von der Bildfläche verschwand, zunächst am Punk englischer Prägung und erst dann an der Szene im Westen Deutschlands oder in West-Berlin. Die soziale Brisanz von Punk in der englischen Gesellschaft entsprach der gesellschaftlichen Brisanz von Punk im sozialistischen Realismus eher, als daß sich die ostdeutsche Version an der westdeutschen Variante des Originals orientiert hätte. Doch, selbst wenn die englischen Punkbands für die DDR-Punks die erste Geige spielten, so gaben die Bands in West-Berlin, Düsseldorf oder Hamburg, die beinahe ausschließlich deutsche Texte sangen, einen wichtigen Impuls zur Gründung ostdeutscher Punkbands. Punk in Deutschland meint immer Punk in Westdeutschland. Das liegt zum einen in dem Umstand begründet, daß Punk in der DDR keine Kommerzialisierung erfuhr und somit auch keine überlieferung. Zum anderen aber in der Tatsache, daß die Bands aus der BRD zumeist auf die Subversivität ihrer Musik Wert legten. Ihre Texte waren in ihrer Gesamtheit abstrakter, allgemeiner und ironischer, als die der DDR-Punkbands. Die erste Generation von Punkbands im Osten Deutschlands verstanden, kriminalisiert und damit politisiert, ihre Musik meist als Tonträger ihrer subversiven Texte, die äußerst explizit, politisch und systembezogen waren. Die West-Bands wurden zum Gegenstand öffentlicher Wahrnehmung, die Ostpunkbands blieben immer Subkultur.
Ein Punk in der DDR riskierte viel, daher nicht nur seine Gegenwart, sondern, z.B. mit 16 Jahren, auch seine gesamte Zukunft, selbst wenn diese vom Reißbrett kam. Also, neben der Familie, Schulausbildung, Lehrstelle und Beruf, von einem Studium ganz zu schweigen. Berufslosigkeit aber bedeutete in einem “Arbeiter- und Bauernstaat“ nicht etwa ein geduldetes Leben am Rande der Gesellschaft, sondern die Verfolgung als “asoziales Element“ und nicht selten Gefängnis. In dem Maße, in welchem sich die Repressionen nicht nur auf die unmittelbare Zukunft, sondern lebenslänglich auswirkten, war die Gefährdung der eigenen Person gewissermaßen eine ganzheitliche. In der DDR konnte ein Punkrocker keine Karriere als Popstar machen. Eine DDR-Punkband spielte ohne Aussicht auf größeren, vielleicht auch kommerziellen Erfolg. Sie spielte mit der Gewißheit ihrer Verfolgung und unter Umständen für eine drastische Haftstrafe. Hinter der Mauer kamen die Bandmitglieder nun auch noch hinter Gitter, damit waren sie nicht einmal mehr in Grenzen frei. In ihrem korrupten Verständnis von Geben und Nehmen, setzten die Parteifunktionäre eine Dankbarkeit voraus, die sie von den Punks nicht mehr zu erwarten hatten. War man nicht zutiefst dankbar für die aufgedrängten sozialen Errungenschaften, für einen sicheren Kindergartenplatz, eine sichere Ausbildung, einen sicheren Arbeitsplatz, einen sicheren Frieden und all das in sicheren Grenzen, so war man am Ende sicher vor sich selbst. Im Jugendwerkhof, im Gefängnis, in der Armee oder durch eine hingebungsvolle Überwachung in freier Wildbahn, die doch nur ein Gehege war. Das Ministerium für Staatssicherheit war der kongeniale Ausdruck einer zum Fetisch erhobenen Sicherheit, welchem die soziale Überversorgung in der DDR als Totschlagargument gegen den Vorwurf einer Unterversorgung an elementarsten Freiheiten diente.
In dem von allen geliebten Fach Staatsbürgerkunde stand in der 9. Klasse ein Aufsatz auf dem Programm, mit dem wir unsere sozialen Errungenschaften feiern und in mantrenhafter Wiederholung die soziale wie ethische Schieflage in der BRD abkanzeln sollten. Der Aufsatz glich einem Diktat, denn sein Titel nahm den Inhalt vorweg und lautete: “Wie kann ein BRD-Bürger sein Leben qualitätsvoll gestalten?” Ich hatte keine Ahnung davon, was eine Suggestivfrage ist, aber das war mir auch so zu schlicht. Mich arglos stellend und durch ein kritisches Elternhaus aufgeklärt und halbwegs geschützt, fiel mir dazu ein, daß ein BRD-Bürger, die Mittel vorausgesetzt, die Musik hören, die Bücher lesen, die Filme sehen und die Länder bereisen könne, die er wolle. Die Lehrerin war offensichtlich auf eine andere Antwort gefaßt, denn sie quittierte meine Arbeit mit einer gepfefferten 5 und salzte sie mit einer Brandrede, deren Schärfe darauf hinauslief, daß sie mich einen Staatsfeind nannte. Ich spürte gleich, daß mit diesem Amt eine gewisse Bürde verbunden war, und daß mit vierzehn Jahren nun eine große Verantwortung auf mir lastete. Zumal meine Mitschüler, die für ihre Routinearbeiten mit eindeutig besseren Zensuren belobigt wurden, mir verstohlen gratulierten und auf die Schultern klopften. Ich machte die interessante Erfahrung, daß man im Kollektiv und auf dem Gipfel des Ruhms sehr einsam sein konnte. Diese Erfahrung wurde zur Gewißheit als ich es als erster und vorerst einziger Punk an meiner Schule mit den älteren Semestern zu tun bekam. Während die Lehrerschaft eher unbedarft und belustigt war, fanden die Bluesbüchsen, zumeist schwere Jungs aus zumeist kinderreichen Familien, die selber einen öffentlichen Tadel nach dem anderen kassierten, meine Verwandlung alles andere als komisch. Sie hatten Mühe zu begreifen, daß jemand wie ich, der durch seine Westverwandschaft priveligiert, immer mit Kostbarkeiten wie Wrangler und Levis angetan, diese zerriß und mit alten Jackets, statt mit den in der Blueszene obligatorischen Fleischerhemden kombinierte. Punk war noch kein Trend, ich erfuhr trotzdem, was es hieß, Mode zu sein.
Von 1979 bis 81 bewegten sich die Punks meist noch außerhalb einer sie vor Angriffen schützenden Szene. Als einzige ihrer Art waren sie gezwungener Maßen Teil einer sozialistischen Gemeinschaft, deren Bürger zwar auf ihre verlorenen Kinder einprügelte und sie mitunter “ab ins Gas” wünschte, aber ansonsten ohnmächtig war, weil man nicht die verstoßen konnte, welche sich längst abgewendet hatten. Diese Ohnmacht auszulösen und diese Wut als Einzelner herauszufordern war gefährlich und mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit selten vereinbar, aber selbstverständlich auch Teil des Spaßes. Und der Spaß bestand in der ganz neuen Erfahrung, wie positiv es war, “feindlich-negativ” und Sand im Getriebe einer Diktatur zu sein. Punks im Osten setzten sich ja nicht allein über tradierte Werte hinweg, sondern zudem über einen ideologischen überbau, der immer ein Rohbau blieb, denn die Funktionäre konnten ihn nie mit Leben erfüllen. Ihr Plan sah weder das vom FDJ-Hemd oder der DDR-Jugendmode abweichende Outfit noch die schrille Art von Teenagern vor, die in zuviel Zukunft keine Zukunft sahen. Die DDR-Jugend war ihnen lediglich eine natürliche Ressource, die es, in der bis zum Erbrechen immer wieder aufgeführten Rolle als “Kampfreserve der Partei”, zu nutzen galt. In Reihe geschaltet, tanzten einige wenige aus der Reihe und versuchten beständig die Grenzen eines Systems zu überwinden, welches sie steuern wollte, von dem sie sich aber nicht lenken ließen. In den Jahren 1979 bis 82 ist die Wirkung, welche die ersten Punks in der DDR-Nomenklatura und bei den Bürgern hinterließen, eigentlich nur mit der Landung Außerirdischer zu vergleichen und kaum zu übertreiben. Durch ihre grelle Erscheinung in den anämischen Farben des Ostens, ihrer unbekümmerten und aggressiven Art wegen und einer energiegeladenen Musik, welche die propagierten Ostrockballaden einfach wegfegte, forderten 16- bis 18-jährige einen Staat heraus, der, in seiner Kontrollwut, am Ende völlig überfordert war. Punks waren als FDJ-ler unkenntlich. Nicht länger DDR-Bürger, bewegten sie sich wie in London und waren eigentlich innerhalb der Republik republikflüchtig. So wurde man fremd im eigenen Land, in dem das Fremde russische Soldaten verkörperten, die in ihren Kasernen weggesperrt blieben. Die DDR blieb immer Provinz, in ihr wurde das Fremde nie als Teil des Vertrauten erlebt. Diese Provinz zu befremden, darin lag eine große Gefahr und ein ungeheures Vergnügen. Selbst die Oppositionsszene stand den Punks zunächst ebenso konstaniert gegenüber wie die SED und deren Funktionäre. Ein echtes Bündnis entstand nie. Zum einen, weil Punk das Ende eines Dialoges mit der Macht bedeutete, von dem sich die Opposition einbildete, ihn kritisch zu pflegen. Zum anderen, da die Köpfe der Oppostion nicht selten aus dem gleichen Beton geschnitzt waren, wie jene, die sie bekämpften.
Meine erste Berührung mit einem bewußten Akt politischen Widerstandes fand im ersten Lehrjahr auf einem GST-Wehrsportgelände statt. Der Ausbildungsplan sah die Handhabung einer Kalaschnikow vor. 1981 hatte die oppositionelle DDR-Friedensbewegung die Parole “Schwerter zu Pflugscharen” ausgegeben. Einige in meinem Zug weigerten sich, eine Waffe in die Hand zu nehmen, daraufhin weigerte sich beinahe der gesamte Zug. Mit Ausnahme der wenigen Punks, wir konnten das überhaupt nicht begreifen, wir nahmen die Kalaschnikow schon aus natürlicher Neugierde in die Hand. Uns wäre nie in den Sinn gekommen, Schwerter zu Pflugscharen umzuschmieden. Das wiederum begriffen die guten Kameraden nicht, die ihre Köpfe zusammensteckten, um sie gemeinsam zu schütteln. So erlebte ich politischen Widerstand als Gruppenzwang. Entsprechend verweigerten wir uns der Verweigerung. Jeder von uns erhielt 16 Schuss Einzelfeuer und 16 Schuß Dauerfeuer. Selbstverständlich verballerten wir die gesamten 32 Schuß im Dauerfeuer, wurden dafür angekeift und sozusagen in Unehren entlassen. Damit war mein Grundwehrdienst abgeleistet, denn die NVA wurde glücklicherweise nie Teil meines Lebenslaufs. Ich verweigerte später den Wehrdienst keineswegs aus einer pazifistischen Anschauung heraus und tat auch gar nicht erst so, als wäre dies der Grund meines Verzichts. Ich tarnte mich nicht mit einem Mode-Pazifismus, der mir genauso auf die Nerven ging wie das halbgare Anarchy-Gesülze vieler Punks. Keine überzeugung zu haben konnte in der DDR sehr befreiend sein. Entscheidend für meine Verweigerung war nicht die politisch korrekte Blasiertheit jener Chef-Verweigerer, sondern ein polnischer Krimineller, der die political correctness sicher nicht mit Löffeln gefressen hatte. Ich lernte ihn ausgerechnet am Rande eine Avantgardefilmfestivals in Warschau kennen. Er ließ durchblicken, daß er wegen Devisenschmuggels acht Jahre in DDR-Gefängnissen zugebracht hatte. Vom DDR-Knast kamen wir auf die DDR-Armee zu sprechen. Ich sagte ihm, daß ich einen Horror davor hätte, uniformiert und kaserniert absoluten Gehorsam leisten zu müssen. Seine Reaktion war schlicht, aber ergreifend. Er legte mir die Hand auf den Arm und sagte das, was später zählte; “Wenn du nicht zur Armee willst, mußt du nicht zur Armee gehen.” Wie einfach gestrickt auch immer dieser Satz war, er gab mir das Vertrauen darin, nie eineinhalb Jahre NVA durchleiden zu müssen, und ich tat seitdem einiges dafür, daß es auch nicht dazu kam. Jenes Vertrauen konnte mir das Aufbegehren der Schmalspurpazifisten nicht vermitteln. Am Ende waren sie die Waffennarren. Sie mußten zur Strafe in einer nahegelegenen Kaserne abwaschen und aufwischen. Als sie sich auf LKWs verladen und abfahren ließen, war die Lächerlichkeit ihres demonstrativen Protestes offensichtlich. Denn was nutzte es, sich der Waffe zu verweigern, aber der anschließenden Demütigung nicht?
In dieser unklaren Haltung lernte ich, nach meiner Zeit als Punk, auch die Oppositionsszene, speziell die “Initiative für Frieden und Menschenrechte”, kennen. Nach ihren politischen Zielen befragt, wurde in ihrem Kreis immer etwas von einem “sozialistischen Pluralismus” phantasiert, den man anstrebe. Ein Oxymoron, ein Begriff, der sich selbst auf die Zunge beißt. Das war 1987. Der Punkszene anzugehören war kein Abenteuer mehr, sondern ein kalkulierbares Risiko. Sie war für mich seit drei Jahren Geschichte. Doch nicht ganz. Die Vergangenheit hatte mich gelehrt, ungläubig zu bleiben. Ich hatte mir einen Skeptizismus bewahrt, der wiederum mich vor Illusionen bewahrte. Davor gefeit, mir von einem dialogabhängigen Widerstand Veränderungen zu erhoffen, empfand ich mich bald nicht mehr nur in Opposition zu einer senilen Staatsführung, sondern auch in Opposition zur Opposition. Zu einem halbintellektuellen Zirkel, der zwar subversiv gegen andere war, jedoch von sich selbst kein Bild hatte. Dieser DDR mangelte es in jeder Hinsicht an Aussichten. Die Zukunft lag vor einem wie ein leerer Aufmarschplatz. An seinen Rändern, hinter den Kulissen, war schwer was los. Die ursprüngliche Brisanz von Punk in der DDR bestand in der Spannung zwischen Diktatur und Subkultur. Diese Spannung war natürlich Schwankungen unterworfen. Viele der ehemaligen Punks hielten sie allerdings durch Wagnisse und Umtriebe künstlerischer, abenteuerlicher oder krimineller Natur aufrecht. “Energie geht nicht verloren.” Das jedenfalls besagen ihre Biografien und der 1. Hauptsatz der Thermodynamik.

(Erschienen im gleichnamigen Katalog zur Ausstellung “ostPUNK! / too much future”, Berlin 2005. Zu beziehen unter www.toomuchfuture.de)

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