Am 7.9.97 eröffnete im Deutschen Historischen Museum eine Ausstellung unter dem irreführenden Titel "Boheme und Diktatur in der DDR". Das Signal "Boheme" im Titel lenkte das Interesse weniger auf eine Werkschau als auf eine dem künstlerischen Werk Übergeordnete Lebensart. Letztere fand sich dann, neben den Künstlerischen Schaustücken, hinter Glas und spezifiziert. Die so Ausgestellten standen vor den Vitrinen wie an ihrem Grab. Dieser Effekt ist wohl eher den heutigen Befindlichkeiten der damaligen Aktivisten geschuldet, als daß er tatsächlich von den Ausstellungsmachern zu verantworten ist. Ihre Verantwortung liegt allerdings in der Verstärkung dieses Effekts. Durch Auslassungen versagen sie den Künstlern jede Vitalität Über das Ende der dokumentierten Aktivitäten und Über den Zusammenbruch der DDR hinaus. Sehr wahrscheinlich entspringt alle geäußerte Kritik an dieser Rückschau dem einen Unbehagen: daß sie letztlich ein Nachruf auf Lebende ist. Innerhalb einer musealen Aufbereitung, die sich derart auf Texte stützt und auf die beredte Zeugenschaft von Malerei und Fotografie, mutet es seltsam an, wenn die Ausstellungsstücke zu stummen Zeugen einer Zeit werden, die nicht vergangen, sondern regelrecht versunken scheint. Dem Betrachter wird gesagt, Atlantis lag in der DDR, denn die DDR liegt auf dem Grunde der Zeit. Eine Entwicklung, eine Fortschreibung Über die Zeit ihrer Geschichte hinaus ist im Deutschen Historischen Museum nicht gewollt. Naturgemäß schließt eine Rückschau die Gegenwart eher aus als ein. Und weil sie dies tut, hat sie ihr Thema noch lange nicht verfehlt. Auch wenn sie ihren Ausstellungsgegenstand als Boheme mißversteht und dann versucht, das Wesen der Boheme akademisch anzugehen. So wurden die Ausstellungsräume thematisch gegeneinander abgegrenzt und widmen sich im einzelnen der Literatur, den Galerien, der Musikszene, Film und Theater, der Fetenkultur usw. (Man vereinzelte, was ursächlich zusammenhing.) Ich hatte mir einen letzten Raum gewünscht, welcher dokumentieren könnte, inwieweit die Zusammenarbeit der damaligen Protagonisten eine Fortsetzung erfahren hat oder nicht. Zwangsläufig wäre man auf neue Entwicklungen, vielleicht auch auf andere Erscheinungsformen der Zusammenarbeit zu sprechen gekommen. Auf Neugründungen von Bands, Galerien, Verlagen, Kneipen, auf Veröffentlichungen in den Neunzigern und auf Veröffentlichungen zum Thema. Ich hatte innerhalb dieses Raumes vom Druckhaus Galrev sprechen Können, von einem Versuch, das Gewesene mit anderen Mitteln fortzuführen. Ich glaube, es wäre sinnvoll gewesen, im Rahmen dieser Ausstellung, vom Gelingen oder Scheitern dieses und anderer Versuche zu reden...
Im Januar 1990 trafen sich einige Ost-Berliner Autoren und Herausgeber der in der DDR im Eigenverlag erschienenen Zeitschriften "ariadnefabrik", "braegen", "Liane" und "Verwendung". Es wurde Über die Einrichtung eines technischen Zentrums beraten, einer Art Copy Shop, der es möglich machen sollte, auf einem höheren technischen Niveau als bisher so weiterzumachen wie bisher. Doch die Konsequenz der jüngsten Ereignisse war eine andere und die Anwesenden beschlossen, einen Verlag zu Gründen. Die Idee war, in einer dem Verlag angeschlossenen Druckerei die Bücher selbst zu produzieren und durch die Annahme von Fremdaufträgen den Verlag zu finanzieren. Das Programm des Druckhaus Galrev sollte ausschließlich Lyrikveröffentlichungen und poetologischen Publikationen vorbehalten sein, in erster Linie aber den Autoren ein festes Forum bieten, die zu DDR-Zeiten durch Veröffentlichungen im Selbstverlag in Erscheinung getreten waren. Die Schaffung eines solchen Forums entsprach der Absicht, dem Gebilde Prenzlauer Berg und Überhaupt der im Eigenverlag erschienenen Literatur Beachtung und Bedeutung Über das Ende der DDR hinaus zu sichern. Wobei es dem Selbstverständnis aller Beteiligten widersprach, mit der Verlagsgründung einen Beweis für die Existenzberechtigung dieser Literatur unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen anzutreten. Die Gründung eines Verlages setzte diese Berechtigung voraus. Dennoch blieb das Ganze ein Experiment. Zum einen bestand es darin, daß der Verlag ein Lyrikverlag zu sein beabsichtigte, zum anderen aber, daß alle am Experiment Beteiligten in verlagstechnischen Dingen völlig unerfahren waren. Als das folgenschwerste Wagnis erwies sich allerdings die neue Form der Zusammenarbeit. Uneingestandenermaßen lief die Gründung des Verlages auf so etwas wie die Einrichtung einer Kommune hinaus. Räume wurden besetzt, Versammlungen einberufen. Ein jeder bekam seinen Platz im Gefüge zugewiesen und damit seinen Platz in einer unausgesprochenen Hierarchie. Die Ämter wurden anhand der scheinbaren Fähigkeiten vergeben und wo diese nicht zu erkennen waren, anhand des Ehrgeizes eines jeden. Auf diese Weise wurden die Verantwortung für die Druckerei, für die buchbinderische Weiterverarbeitung, für Herstellung und Satz, für die rechtlichen Angelegenheiten des Ganzen, für die Finanzen, für den Vertrieb und für die öffentlichkeitsarbeit auf den Stamm der Gründungsmitglieder verteilt. Am Ende war auch noch die verlagseigene Kneipe im Haus zu vergeben. Was in den Schlagzeilen einmal als Untergrund firmierte, zog um ins Parterre und unter ein Dach. Die Entwicklung und Festlegung des literarischen Programms, dem soviel Aufwand diente, sollte Sache aller sein. Das fand dann, als es ernst wurde, aber so nicht statt. Die geplante Zusammenarbeit beschränkte sich zunehmend auf die Logistik und auf das Stellen programm- und verlagsbezogener Fragen. Die Beantwortung letzterer erfuhr eine Monopolisierung durch einige wenige der Gesellschafter bzw. durch dem Verlag assoziierte Autoren. Deren wirtschaftliche, politische, ästhetische und nicht zuletzt ethische Vorstellungen liefen weit auseinander. Die Präposition \"Druckhaus\" erwies sich als gut gewählt und der Mythos von der Homogenität der \"Prenzlauer-Berg-Connection\" als behauptet. Heute gilt diese Tatsache als hinlänglich bekannt, entbehrte damals aber, durch die gemeinsame Arbeit bei Galrev, nicht einer besonderen Dramatik und Brisanz. Erst im Zusammenhang mit der 1992 entbrannten Stasidebatte wurde ihr der Status einer Binsenweisheit zuerkannt. Die Auseinandersetzung um ästhetische Prinzipien und persönliche Antipathien, aber vor allem die Vermengung von beidem, bestimmte sehr bald das Geschehen. Verschärft wurde die Situation durch die finanzielle Belastung des Verlages und jedes einzelnen im Verlag. Die ständig drohende Finanzkrise war es auch, die zu einer Prioritätenspaltung unter den Gesellschaftern führte. Die einen gingen dazu Über, rein wirtschaftlich zu denken und zu handeln, sie verschoben das Gewicht vom Verlag auf die Produktion. Die anderen blieben auf die ideellen Ziele des Unternehmens fixiert, seine wirtschaftlichen Notwendigkeiten aber nahmen sie nicht wirklich wahr. Literatur und das Geschäft mit Literatur vermochte niemand im Druckhaus Galrev miteinander zu verbinden. Tatsache ist, daß die Beantwortung von inhaltlichen und ästhetischen Fragen vor den Lösungsversuchen der organisatorischen und ökonomischen Probleme wich. Es ergaben sich die üblichen Schwierigkeiten; wo sind Fördermittel abzuschöpfen, wie gründe ich einen Verein und wie reiße ich ihn wieder ein. Man könnte einwenden, daß sich Menschen von ihren ursprünglichen Vorstellungen wegbewegen sei an sich nichts neues, daß ein Unternehmen sich an inneren Konflikten aufreibt in den Gründerjahren nach 89 tausendfach geschehen. Was diese Konflikte die Erinnerung wert machten, ist die sich aus ihnen ergebende Frage, ob es möglich ist, einen Lyrikverlag zu betreiben, mit der Poesie zu arbeiten, die ja auch immer einem Ideal entsprechen will, ohne an einen Idealismus gebunden zu sein. Verlangt die Arbeit und der Umgang mit Poesie nicht, wie jedes Gedicht, eine Verhältnismäßigkeit der Mittel? Denn wie kann es erträglich sein, daß man Gedichte schreibt oder herausgibt, die etwas Unsagbares benennen, etwas sehr Reines, von mir aus Vollkommenes, sein wollen, aber untereinander scheitert man am Sagbaren, soweit das Gesagte kein Gekläffe ist? Diese Fragen mögen verspätet, weil längst beantwortet erscheinen. (Ich weiß, "Ich ist ein anderer", jeder Dichter ist zweisprachig und man müsse den Dichter von seinem Werk trennen - nach dem Bekanntwerden der Stasizugehörigkeit Sascha Andersons und Rainer Schedlinskis erst recht.) Doch gerade durch die gemachten Erfahrungen bei Galrev bin ich gewillt, diese Fragen, auch nach ihrer wiederholten Beantwortung, ein weiteres Mal zu stellen. Im Druckhaus Galrev stand das geschriebene Wort Über dem gesprochenen Wort. Was aber gesprochen wurde erschöpfte sich zumeist in Mißverständnissen und Denunziationen, in Fragen, auf welche man die Antwort besser schuldig blieb und in Antworten auf Fragen, die niemand stellte. Wir machten in Poesie und offensichtlich war es so, daß der zu veröffentlichende Text mehr Respekt verdiente als diejenigen, welche durch ihre Arbeit und das Verleugnen eigener Ambitionen seine Veröffentlichung ermöglichten. Damals erlosch mein Interesse, an der Realisierung von etwas Vollkommenen teilhaben zu wollen, wenn es unter unvollkommenen Bedingungen geschieht. Es kann hier nicht darum gehen, im nachhinein ideale Verhältnisse einzuklagen oder etwa die Auflösung aller Widersprüche im Zeichen der Poesie. Mir ist an der Dokumentation eines Versuchs gelegen, zu einer Kontinuität zu finden und diese auf die Arbeit mit Literatur zu Gründen. Davon kann an dieser Stelle keine Rede sein. Jedoch von ein paar Freunden der Poesie und von meinem Eindruck, daß sie im Druckhaus Galrev mit Jauche auf Bütten druckten.
Womit wir bei den Techniken wären. Wie gesagt, das Druckhaus Galrev hatte es sich zum Programm gemacht, die literarische und Überhaupt ästhetische Tradition der im Eigenverlag erschienenen Editionen aufzunehmen und weiterzuführen. Mir war zunächst nicht klar, daß diese Weiterführung auch bedeutete, Verluste hinzunehmen. Die angesprochene Ästhetik dieser Editionen war nicht allein literarischer Natur, sie beruhte zudem auf einem handwerklichen Ausdruckszwang. Dieser spielte bei Galrev eine geringe Rolle, denn er ist natürlich an die Auflagenhöhe einer Veröffentlichung gebunden. Erst recht, wenn das Buch eigentlich mehr einem Objekt oder einem Gefäß für Poetologien gleicht und diesem in der DDR rechtliche und technische Grenzen gesetzt waren. Bei Galrev erschienen im Jahr 12 Bücher in Auflagen zwischen jeweils 1000 bzw. 2000 Exemplaren. Es ist etwas anderes, das Layout nicht mit der Hand, sondern am Computer zu erstellen, zu drucken, statt drucken zu lassen, die Bücher am Ende doch in eine Binderei zu geben und sie dem lässigen Engagement der Vertriebe zu überlassen. Ich erinnere mich an eine Fotografie von Adolf Wölfli. Er ist vor den Fresken seiner ausgemalten Zelle zu sehen und steht, wie um sich an seinem Lebenswerk zu messen, neben dem Stapel seiner handgeschrieben, gezeichneten und handvernähten Bücher. Dieser Bücherstapel, seine Auflage, war exakt so hoch wie er groß war. Ich habe dies immer als Ideal empfunden und als im Gleichgewicht. An solchen Maßstäben gemessen erübrigt es sich, einen Verlag zu Gründen. Galrev aber war ein Verlag und kein Labor. Eben dies aber war ein wichtiger Grund, weshalb das Herausgeben von Büchern für mich an Magie verlor. Zumal auch das Büchermachen ein oder zwei Leuten vorbehalten blieb. Dafür war sicher die Arbeitsteilung verantwortlich, aber auch ein gewisser Generationschauvinismus innerhalb des Verlages. Heute stelle ich mir die Frage, weshalb die Enttäuschung aller Hoffnungen nicht genügte, um das Experiment Galrev, früher als geschehen, als gescheitert zu betrachten. Selbst als Anfang 92 die Stasidiskussion um Sascha Anderson und Rainer Schedlindki die Arbeit und das Auskommen im Verlag weiter erschwerte, dachte ich nicht daran, Galrev als Gesellschafter in der Funktion eines ausführenden Organs und Transportarbeiters zu verlassen.
Schließlich akzeptierte ich auch noch, daß Sascha und Rainer zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen schwiegen. Wenn sie sprachen, dann sowieso nur, ohne daß sie ihr Schweigen brachen. Damals lag mir viel am Fortbestand des Verlages und ich war bereit, das Schweigen für den Augenblick hinzunehmen. Zudem bewirkte es, daß es mir bald wichtiger wurde, mir Über meine eigene Rolle im Kontext der "Dichter vom Prenzlauer Berg" und bei Galrev klar zu werden, als Über die Biographien anderer. In diesem einsetzenden Interesse liegt für mich der eigentliche Wert der Stasidiskussion. Ich war jedoch nicht bereit, den aus dem Schweigen der Beschuldigten resultierenden Stellvertreterkrieg zu führen. Ich quittierte endlich den Dienst und trat am 1.6.93 auch als Gesellschafter zurück. Dieser Entschluß kam einer Erlösung gleich und es wäre albern wollte ich Sascha und Rainer meine Erlösung verübeln. Beinahe jeder der Verlagsmitglieder hätte auch schon vor dem 2.1.92 Gründe genug dafür anführen können, Galrev sich selbst und den anderen zu überlassen. Was ich Sascha Anderson und Rainer Schedlinski vorzuwerfen habe, ist: sie hätten wissen müssen, daß sie früher oder später unter ihrem Decknamen durch die Presse geistern. Andernfalls würde man darauf schließen müssen, daß ihre Texte klüger wären als sie selbst. (Wie weit geht die Trennung des Dichters von seinem Werk, ohne ihm eine falsche Identität zu zu attestieren?) Jedenfalls hatten sie eine Verantwortung gegenüber den Autoren und Verlagsleuten, mit denen sie gemeinsam planten und arbeiteten. Die Konsequenzen, die sie hätten ziehen müssen, haben andere für sie getragen. Ihr Desaster wurde zu unserem.
Zum Schluß sei es noch gesagt, bei Galrev wurden neben überflüssigen gute und einige sehr gute Bücher verlegt. Manchmal bin ich geneigt zu sagen, daß es sich für diese wenigen, sehr guten Bücher gelohnt hätte, sich von den Umständen, unter denen sie entstanden, kränken zu lassen. Unwillkürlich drängt sich mir dann aber eine Gleichung auf, die jedes Verhältnis missen läßt. Für mein Empfinden sind es im ganzen 5 Bücher, die ich als positive Folgen eines Scheiterns nennen könnte. Die negativen Folgen belaufen sich auf 30 000 bis 40 000 Mark an sogenannten Gesellschafterschulden und auf Einkommenssteuern für Gewinne, die niemand von den Gesellschaftern je sah. Dies sind die Verluste, die sich beziffern lassen. Mitunter war es ein gutes Gefühl, dabei zu sein, wenn bei Galrev Ideen und Bücher entstanden. Doch dabei sein war auch schon alles.
(Geschrieben und gelesen anläßlich der Veranstaltung "146 Jahre Boheme" am 26.11.97 im Torpedokäfer, Berlin.)
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