VIRGIN PRUNES - SOUNDTRACK ZUM EXODUS


Sollte dies ein Beitrag über die Virgin Prunes sein, wäre dies wohl die Stelle, an welcher man die persönlichen und technischen Daten einer Band auflisten müßte, von der ich vor allem eines weiß, daß sie aus Irland, und in Irland aus Dublin stammte. Ich weiß, daß sie sich 1978 formierte, daß ihre wechselnde Besetzung aus Gavin Friday (Vocals), Guggi (Vocals), Dave-Id Busarus (Vocals), Strongman (Bass), Dik (Guitar), Mary (Drums/ Guitar) und Pod (Drums) bestand, welche vier reguläre Platten einspielte: 1981 „A New Form Of Beauty” , 1982 „...If I Die, I Die” und „Heresie” (im Original eine Box mit zwei 10″es und diversem Textmaterial) sowie 1986 „The Moon Looked Down And Laughed”. Darüberhinaus erschien 1985 eine Platte mit Outtakes namens „Over The Rainbow” und 1987 eine Live-Lp unter dem Titel „The Hidden Lie - Live In Paris 6/6/86”. Zudem existieren etliche inzwischen einigermaßen rare und einigermaßen teure 7″es und 12″es und einige noch teurere Bootlegs, ich selbst kenne „Moonshiner” und „Reptiles”. Nach dem Weggang des Sängers Gavin Friday erschienen unter dem Kürzel The Prunes zwei LPs und eine Mini-LP. In der Reihenfolge ihres Erscheinens waren das „Lite Fantastik” (als Vinyl in einer miserablen Pressung), „Nada” und „Blossoms And Blood”. Gavin Friday selbst brachte drei Solo-LPs heraus, von denen die erste großartig, die zweite hörbar und die dritte für meine Begriffe unhörbar ist. Von Dave-Id Busarus erschien 1995 unter dem Titel „Smegma Structions Don't Rhyme” eine CD. Dave-Id war das Faktotum der Virgin Prunes, die personifizierte Quintessenz einer Band, die Performances, Sounds, Avantgarde, Musical, Punk und Glamrock durcheinander warf. Und um das Ganze mit zwei sattsam bekannten Details abzurunden, soll auch noch Erwähnung finden, daß Dik Prune und The Edge, der Gitarist von U2, Brüder sind, Gavin Friday und Guggi wiederum in Kindheitstagen mit Bono von den späteren U2 durch Dublin zogen. Friday und Bono arbeiten bis heute gelegentlich zusammen, so etwa für die Musik zu dem Film von Jim Sheridan „In the Name of the Father”. Und schließlich weiß ich noch zu berichten, daß Guggie seit langer Zeit als Maler aktiv ist. Von ihm stammen einige der Zeichnungen auf den Innersleeves der „A New Form Of Beauty” und auf den Covern der dieser LP vorausgegangenen Serie, die aus einer 7″, einer 10″ und einer 12″ bestand.
Ganz abgesehen von der Tatsache, daß man zunächst einmal von ihrer Musik begeistert sein muß, können die Koordinaten einer Band mitunter wenig hilfreich für das Verständnis der Faszination sein, die von ihr ausgeht. Auch die Texte der Prunes können mein eigenes Berührtsein nicht hinreichend erklären, da sie zum einen nur in Ausnahmefällen den Platten beilagen und ich zum anderen die Band als DDR-Insasse kennenlernte und Platten, die auf irgendeine Weise ihren Weg von West nach Ost fanden, dort vor allem als Tapes und meistens als die x-te Kopie von Tape zu Tape kursierten, was der Verständlichkeit der Texte nicht eben förderlich war. Meine Hingabe an die Virgin Prunes erklärt sich also weder aus ihrer Band-Vita noch durch ihre Texte, vielmehr wird sie verständlich durch das Aufeinandertreffen ihrer Songs mit einem sehr speziellen Zeitpunkt meiner eigenen Geschichte. Zunächst einmal waren die Virgin Prunes für mich nichts als Musik, welche losgelöst von dem Wissen um die Musiker und ihre eventuelle Botschaft existierte. So verband sie sich auf eine besondere, sehr natürliche Weise mit der Zeit und den äußeren wie inneren Umständen, unter denen ich sie hörte. Von diesen Umständen und ihrem Soundtrack durch die Virgin Prunes soll hier die Rede sein...
Ich kannte die Virgin Prunes gewissermaßen vom Sehen, bevor ich sie hörte. Ein Freund sprach von einem befreundeten Dichter, der die „A New Form Of Beauty”, die „Heresie” und, ich glaube, auch die „...If I Die, I Die” von ihnen besaß. Mein Freund, ein Maler, schilderte mir ihre Musik in den anschaulichsten Bildern und Farben, so daß ich die Songs gleichsam vor Augen hatte und eher gerahmt denn als Songs wahrnahm. Mit der „...If I Die, I Die” erging es mir dann auch wie mit den Filmen, die ich wiederum nur vom Hören kannte, indem ich bestimmte Szenen so oft aus dem Mund anderer als Hörspiel geliefert bekam, daß ich sie sofort erkannte, wenn ich im Fernsehen unvorbereitet auf sie traf. Mir fiel eine Kassette in die Hände, ohne Hülle und nicht beschriftet. Die erste Seite stellte wahrscheinlich die Essenz aus mehreren anderen Kassetten dar. Ich erinnere mich noch, daß ich ein Stück von Coil und „Reality Asylum” von Crass identifizierte. Den Rest kannte ich nicht, ebenso verhielt es sich beim Hören der zweiten Seite. Mit dem einen Unterschied, daß die Songs dieser Seite mich in ihrer Exaltiertheit an alles erinnerten, was ich über die Virgin Prunes gehört hatte. Die Kassette stammte aus dem Nachlaß eines sogenannten Ausreisers, der wie so oft nur das Nötigste bei seiner Ausreise aus der DDR in den Westen mitnehmen durfte. Dieses Tape gehörte offensichtlich nicht dazu und war auf diese Weise in meine Hände geraten.
Das war Anfang 1984. Die DDR-Regierung verlor allmählich die Initiative über die von ihr losgetretenen gesellschaftlichen Entwicklungen. Sie regierte, indem sie reagierte. Zu Beginn der achtziger Jahre häuften sich die Ausreiseanträge, und die DDR-Nomenklatura beging einen der folgenreichsten Fehler unter ihren vielen Fehleinschätzungen der damaligen Situation. Sie entließ, wie im Affekt, diejenigen aus der Staatsbürgerschaft, welche bereits seit Jahren einen Ausreiseantrag zu laufen hatten. Das geschah ein Jahr vor dem Machtantritt Gorbatschows in der damaligen UdSSR. Diese Massenentlassung erfolgte wohl in der Hoffnung, somit ein Unruhepotential zu neutralisieren. Womit die Initiatoren unbegreiflicherweise nicht gerechnet hatten, war die Sogwirkung dieser Entscheidung. In der DDR hatte sich eine Art Volksparanoia entwickelt, egal wie man beschaffen war, ob loyal, ob illoyal, ob politisch denkend oder nicht, beinahe jeder definierte sich kulturell und wirtschaftlich vor allem über seine Einstellung zum Westen Deutschlands. Worüber man auch sprach, offen oder verdeckt, der Osten maß sich am Westen. So stellte nicht nur die D-Mark, sondern überhaupt das auf sie gemünzte westliche Selbstverständnis so etwas wie eine kulturelle Schattenwährung in der DDR dar. Eine Flut von Ausreiseanträgen war die Folge, viele hofften mit dieser Ausreisewelle noch gen Westen gespült zu werden. In dieser Situation und durch die jüngsten Entwicklungen kam ich also zu der „...If I Die, I Die” der Virgin Prunes. Ohne Zweifel gab es Ereignisse, die für mich in einem engeren und ursächlicheren Zusammenhang standen, was die kommenden Wochen und Monate betraf. Doch zu den Geschehnissen dieser Tage und zu meinen Erinnerungen an diese Zeit lieferte diese Platte den Soundtrack und am Ende eine Art Requiem für all jene Freunde, die in meiner Vorstellung auf Nimmerwiedersehen in den Westen verschwanden wie in das Innere eines unbekannten Kontinents.
Natürlich brachten die Virgin Prunes auch eine Saite in mir zum Klingen, welche von diesen Ereignissen unberührt und rein musikalischer Natur war. Sie waren für mich nicht irgendeine Neuentdeckung. Schon deshalb nicht, da sie eine irische Band waren. Nicht, daß ich mich für Chris de Burgh hätte begeistern können, nur weil er Ire war, oder daß ich zwangsläufig Irish Folk favorisierte, aber alles, was mit der Punk- und Postpunkära in Irland in Beziehung stand, interessierte mich über das übliche Maß hinaus. Ich mochte die Stiff Little Fingers aus Belfast, die Undertones und späteren That Petrol Emotion aus Derry oder die frühen U2 ihrer Musik wegen, so wie ich auch Wire, Gang Of Four oder die Stranglers mochte. Doch ich mochte sie eben auch, so unkritisch das klingen mag, dafür, daß sie Iren waren. Und das lag sehr einfach in der Tatsache begründet, daß mich seit meinem sechzehnten Lebensjahr eine noch näher zu bestimmende Neugier an Irland band, die deshalb keine Befriedugung fand, weil ich die ungeliebte DDR nicht verlassen durfte. Es wird im Frühjahr 1980 gewesen sein, ich war 15 und mich erreichte die Nachricht, Bon Scott wäre von uns gegangen. Ich hatte Ferien und hörte AC/DC so, wie andere sich vor Kummer besaufen. Ab und zu sah ich fern. Eine viel lebhaftere Erinnerung als jene an meine Trauer um ein Idol (die wohl mehr Attitüde, doch deshalb nicht weniger empfunden war), stellt für mich die Erinnerung an einen Dokumentarfilm dar, den ich in dieser Verfassung sah. Nicht allein, daß er mein Umwölktsein bebilderte, indem er meiner seligen Verzweiflung entsprach, er verhieß mir überhaupt eine Entsprechung meiner selbst, einen Ort, der jeder meiner Gemütslagen entsprach und somit das, was man eine Seelenlandschaft nennen würde.
Dieser Film porträtierte zunächst einmal ganz schlicht einen Koch. Er lebte und arbeitete jedoch auf einem Schloß in der verhangenen Landschaft Irlands. Der Schloßherr war auf eine sehr lebendige Weise verwirrt und schien, was sein Aussehen betraf, gleichzeitig die Stelle des Hausgeistes zu vertreten. Diese Gestalt musizierte ständig mit Freunden. Und zwar Irish Folk. Sie hatten es wohl auf diese Weise schon zu etlichen Platten gebracht. Unkonventionell und ihren Whistles gleich, wirbelten sie aufgedreht durch das Haus. Vorzugsweise durch die Küche, mit den Fingern und Bärten in den Töpfen eines Koches, der Irish Folk verabscheute und die Musiker, die er bekochte, umso mehr verachtete, da er selbst ein Freund und Kenner klassischer Musik war. Wenn er in den nächsten Ort fuhr, um sich mit den Zutaten seiner Gerichte zu versorgen, versorgte er auch sich selbst mit Aufnahmen klassischer Musik, die er, mit Gemüse beladen, kaufte oder bestellte. Ich erinnere mich, daß jenes Schloß und der Ort, überhaupt die Landschaft in ein gleichermaßen gedämpftes wie intensives Licht getaucht waren. Alles wirkte sehr räumlich, selbst die Häuser schienen noch behaust. Später fand ich diesen Eindruck zu meiner Verblüffung genauestens bestätigt. Der Himmel hing sehr tief, ein Haus verlassend hatte ich immer das Gefühl, ich würde nur einen weiteren Raum betreten, ohne dieses Gefühl jedoch als abstrakt zu empfinden. Viel später erklärte ich mir die Magie Irlands als eine Entsprechung der Dramatik seines Wetterleuchtens zu der Dramatik seiner Geschichte, die in der Betrachtung der irischen Landschaft spürbar wird.
Ich erinnere mich gut an die letzte Szene und an den letzten Satz des Films. Der Hausherr schenkte dem Koch wie immer die neueste Platte seiner Band. Letzterer schob sie ungehört in den Stapel all der vorangegangenen „Belegexemplare” - mit dem Kommentar: „Ich stellte sie zu den anderen.”
Der Film hatte mein Interesse an Irland entfacht, das später zu einer wirklichen Verbundenheit wurde. Die Trauer um einen Schwarm wurde so vielleicht durch eine Leidenschaft von sehr viel größerer Tragweite abgelöst. Mit einer zuvor nicht dagewesenen Deutlichkeit mußte ich einsehen, daß ich in Schutzhaft vor den eigenen Wünschen und Bedürfnissen saß, daß ich mein Land nicht verlassen konnte und jenes Land auf absehbare Zeit, und ich meine auf wirklich absehbare Zeit, nicht kennenlernen würde. 1980 rechnete niemand damit, daß der DDR keine 10 Jahre mehr blieben. Als ich 1990 Irland dann ein erstes Mal bereiste, ging dort bemerkenswerterweise die langjährige Liebe zu einer Frau in die Brüche. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß, von der Idee ausgehend, jeder Mensch sei nur die eine Hälfte eines geteilten Wesens, es auch vorstellbar wäre, daß die andere Hälfte nicht notwendigerweise ein Mensch sein muß, sondern auch ein Land sein könnte - daß man sich jenes Wesen als einen Kentaur aus Mensch und Landschaft denken müßte. Jedenfalls erkannte ich diese Landschaft als eine Wahllandschaft, aufgrund des Gefühls einer Wahlverwandtschaft. So wäre meine Leidenschaft für Irland hinreichend erklärt. Und mein Verlangen, dieses Land vor dem Rentenalter zu sehen, erst recht. Und mein Interesse an den Virgin Prunes auch. Die aufgewühlte Düsternis ihrer Songs schien irgendwie dem irischen Klima zu entsprechen. Schwer berechenbar, wirkte das Dunkle auch grell, das Schrille zugleich mild, und was als elementar und dabei vielleicht als gewalttätig empfunden werden konnte, jedoch nie lebensfeindlich. Ich liebte die Songs, weil sie mit sich selber rangen. Dieser Zustand war mir vertraut.
Ich kämpfte mit mir, denn 1984 stand auch ich, wie viele andere, vor der Entscheidung, den Versuch zu unternehmen, das Land auf dem Amtsweg mittels eines Ausreiseantrages zu verlassen. Und ein wesentlicher Grund es zu versuchen bestand darin, endlich Irland zu sehen. Und ein Grund zu bleiben in dem Beginn jener Liebe, die dann in Irland enden sollte. Der Ausreiseschub selbst verschärfte die eigene Entscheidungsnot noch, denn die massenhaften Anträge von Leuten, die das Land nur noch verlassen wollten, mündete in einem Exodus der eigenen Freunde. Ich sah sie einen nach dem anderen gehen. Jedesmal beklagte man ihr Verschwinden wie den Heimgang eines Toten. Bei einem Freund klingelten sie in der Nacht, die auf den Tag folgte, an welchem er seinen Ausreiseantrag stellte. Er durfte noch seine Schuhe anziehen und seinen Mantel greifen, dann fuhren sie ihn hinter einen Grenzübergang. Andere verschwanden eine Woche, nachdem sie ihren Antrag stellten. Wieder anderen blieb noch die Zeit, ihre Sachen zu packen und Abschied zu feiern. Sicher waren das Freudenfeste, doch letztlich wurde auch das Ende gewachsener Strukturen, wie z.B. künstlerischer Allianzen, begossen. Viele stellten Anträge auf Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft in der Annahme, sie würden denen, die vorausgingen, bald folgen. Doch nicht selten hatten sie bis zum Ende der DDR zu bleiben. Sie saßen für Jahre auf gepackten Koffern, über den Mangel an Handlungsfreiheit hinaus ein weiteres Mal eingeschränkt und unfähig, in diesem Zustand zwischen den Zuständen, etwas Altes fortzuführen, geschweige denn, etwas Neues zu beginnen. Sie blieben anwesend und waren doch aus ihrer Anwesenheit entlassen. Nicht wenige unter ihnen suchten ihr Heil und ihre Handlungsfähigkeit in der Vorbereitung und Ausführung einer Flucht, die zumeist, über den Umweg durch die Gefängnisse der sozialistischen Bruderstaaten, für viele Monate in einer der DDR-Haftanstalten endete.
Die Entvölkerung eines großen Freundes- und Bekanntenkreises über Wochen und Monate, schließlich über Jahre erlebt zu haben (1987 wurde zum Jahr einer zweiten Ausreisewelle), gehört für mich zu den bedrückendsten Erinnerungen an die DDR. Sie war in jeder Hinsicht eine Zelle, die sich nun teilte und teilte und teilte. Ich empfand das beinahe als eine Kontinentalverschiebung, unter einer Kette von Erschütterungen brach ein Teil meiner selbst weg. Es wäre irreführend und vermessen, wollte ich diese Erfahrung an den Erfahrungen beispielsweise russischer Juden messen, deren Angehörige und Freunde Rußland verließen und deren Entwurzelung am Ort ihrer Wurzeln sicher ungleich existentieller war. Oder etwa an dem Schicksal der Familien irischer Emigranten, deren Emigrantendasein eine verdrehte Form des Erbrechts darstellte, verursacht durch einen ererbten Mangel an Rechten, Arbeit und Nahrung. Aber ich kann das Hinterbliebenen-Gefühl vieler in der DDR, von aller Welt verlassen und ausgeschlossen zu sein, an den eigenen Dramen messen. Dieses Gefühl holte mich seltsamerweise noch einmal, beinahe ein Jahr nach dem Mauerfall und unmittelbar nach meiner ersten Irlandreise, auf eine beinahe ganzheitliche Weise ein.
Ich zog mich für drei Wochen auf ein Haus in der Prignitz, einhundert Kilometer nördlich von Berlin, zurück. Das Haus stand und steht auf einer Anhöhe und ist, in unmittelbarer Nähe zu einem Fluß gelegen, ringsum von Wiesen umgeben. Es war Ende September. Vor und hinter dem Haus sammelten sich die Wildgänse, um in langgestreckten Winkeln über das Dach in den Süden zu fliegen. Ich war verlassen und wurde verlassen, in Scharen, jeden Tag, drei Wochen lang. Was romantisch klingen mag, legte sich auf mein Gemüt wie eine nasse Baumwolldecke. Die keuchenden und hohlen Schreie der Gänse ließen den immergrauen Himmel wie einen leeren Eimer klingen. Ich wollte eine Trennung verwinden und wurde unentwegt an sie erinnert. Um mich abzulenken, machte ich einen längeren Spaziergang zu einem Haus, das Bekannte bewohnten. Sie waren nicht da, also machte ich kehrt. Es war nicht einer dieser Märsche, der einen schaffte, und dennoch neue Frische verlieh. Kaum ein Anblick, der einen erfreuen oder fesseln konnte. Das Grün war grau und das Grau von einem abgestandenen Gelb. Es war diesig, manchmal nieselte es. Schließlich stand ich wieder vor dem Haus, allerdings am Ufer des Flusses auf der dem Haus gegenüberliegenden Seite. Ich überlegte, ob ich die Strecke bis zur nächsten Brücke und zurück laufen oder tief Luft holend in den Fluß steigen sollte. Das Wasser stand zu dieser Jahreszeit nicht hoch, an einer flachen Stelle würde es mir etwa bis zum Hals reichen. Ich stieg also hinein. Auf der Hälfte der Strecke blieb ich kurz, mein Kleiderbündel über dem Kopf, in dem eisigen Wasser stehen, denn mir bot sich folgendes Bild: In der Mitte des Flusses trieb ein einsamer roter Luftballon auf mich zu. Das war am 4. Oktober 1990, am Tag nach dem Tag der Wiedervereinigung.
Ich werde diesen Anblick nicht vergessen. Er wirkte wie eine kalkulierte Metapher auf die DDR. Der knallrote Ballon, Überbleibsel der Wiedervereinigungsfestivitäten, in der grauen Farblosigkeit jenes Tages, stand für die eigentlichen Nationalfarben der DDR, für das Grau ihres Alltags und das Rot ihrer Parolen. Wie immer aufgeblasen und langsam um sich selber kreisend, trieb sie den Fluß hinab, verschwand hinter der nächsten Biegung - und war Geschichte. Doch die für mich dunkelste Zeit ihrer Geschichte, eine Zeit vieler Abschiede und Trennungen, drängte sich mir wieder auf und verband sich mit der Aufbruchsstimmung der Gänse, die noch dazu Graugänse waren. In solchen Momenten hofft man wohl uneingestandenermaßen, daß die eigenen Gefühle größer seien als man selbst. So schien mir der Aufbruch der Vögel der Flug der Seelen jener Freundschaften und Beziehungen zu sein, die 1984 zwangsweise geschieden wurden. Auch, daß die zwei Hälften eines Landes unter einigem Getöse die Ringe tauschten, während ich selbst mich fernab ziemlich unvollständig fühlte, erschien mir überaus passend.
Dennoch waren die Gemeinsamkeiten zwischen diesem kollektiven Taumel und meinem Verlust der eigenen Balance naturgemäß denkbar gering. Auf der einen Seite der als geballter Frohsinn getarnte Versuch, vor aller Welt Gemeinsamkeit zu signalisieren. Auf meiner Seite eine Verzweiflung, die als solche diagnostiziert nicht über sich selbst hinauswies. Ganz am Anfang der „Heresie” singt Dave-Id sich warm, indem er selbstvergessen vor sich hin lallt und leiert, bis er in ein anfallartiges Lachen verfällt, und doch nur in sich hinein lacht. Ein Lachen, das sich ausheult, und derart entstellt auf Platte gepreßt, nicht für fremde Ohren bestimmt zu sein scheint. Als ich hörte, daß die Virgin Prunes im Westen Deutschlands als Gothic-Band galten, hat mich das sehr verwundert. Ihre Düsternis wirkte immer orgiastisch, doch nie herbeizitiert und verklärt. Zumindest auf den ersten beiden Platten war nichts an ihr nur schön, und insofern genügte sie sich nicht selbst. „A New Form Of Beauty”, die Musik der Virgin Prunes war jenseits allen Verklärtseins erhaben, sie war, von einer entfesselten Traurigkeit, nicht zuletzt auch erhaben über sich selbst. Ich hörte sie 1984 ein erstes Mal. Meine Trauer um den Verlust vieler Freunde mischte sich mit dem Hohn und Spott darüber, wie sich das Staatswesen DDR durch einen ungeheuren Aderlaß langsam selbst entleibte. Die schrillen und klagenden Sounds, welche zwischen den Stücken auf der „Heresie” zu hören sind, illustrierte mein Freund mit den Worten, sie klängen „als würde sich die riesige Fördermaschine eines Tagebaus selbst verschlingen”. Vielleicht ein seltsames Beispiel der Völkerverständigung, doch ich empfand die Musik einer irischen Band als einen Abgesang auf die DDR.

(Der Artikel entstand für den „irland almanach #2”, 2000 in einer gekürzten Version. Er wurde ungekürzt im „Gegener”, vermutlich Heft Nr.5, veröffentlicht.)

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Besucher: umsetzung © karsten richter